Story: Yang Mi-ja (Yoon Jung-hee) ist eine 66-jährige Großmutter, die mit ihrem Enkel Jong-wook (Lee Da-wit) zusammen in einer kleinen
Wohnung lebt. Ihren Lebensunterhalt bezieht die Frau von der staatlichen Wohlfahrt und einem Nebenjob als Hausmädchen für einen älteren Herren.
Als Mi-ja eines Tages nach einer Untersuchung aus dem Krankenhaus kommt, erwartet sie ein Mann, der ihr erklärt, dass er der Vater einer der Mitschüler
Jong-wooks sei und er sowie vier weitere Väter etwas mit ihr zu besprechen hätten. Es stellt sich heraus, dass Jong-wook und seine fünf Freunde, mit denen
er jede freie Minute verbringt, über einen Zeitraum von sechs Monaten ein Mädchen in der Schule vergewaltigt haben, bis diese sich schließlich
das Leben nahm. In ihrem Tagebuch hat das Mädchen ihre Erlebnisse niedergeschrieben und nun wollen die Väter der Mutter des toten Mädchens eine Art
Abfindung zahlen, damit nicht die Polizei eingeschaltet wird. Mi-ja weiß nicht, wie sie mit dieser Enthüllung über ihren Enkel umgehen soll.
Gleichzeitig besucht sie ein Poesie-Seminar, in dem sie lernt, das Schöne in der Welt zu sehen. Doch bei all den Ereignissen um sie herum, scheint
das keine leichte Aufgabe zu sein.
Kritik: Regisseur Lee Chang-dong ist einer der herausragendsten und wichtigsten Regisseure des koreanischen Kinos. Den kulturellen Wert, den
seine sozio-kritischen Werke wie "Peppermint Candy" oder "Oasis" haben, außer Frage gestellt, war mir nur bedingt klar, warum Lee von den Kritikern so groß
gefeiert wird. Ganz klar ist die Thematik von Lees Filmen denen anderer Regisseure weit überlegen und da Lee vor seinen Tagen beim Film Schriftsteller
war, kann man sich gut vorstellen, dass seine ruhigen Geschichten im Literatur-Medium besser aufgehoben sein könnten. Gerade "Secret Sunshine" bewies
dies meiner Meinung nach ganz deutlich und war ein zu Unrecht hochgelobtes Drama. Das soll nicht heißen, dass ich ruhige Dramen nicht zu schätzen weiß,
doch Lees kühle und distanzierte Herangehensweise, merkwürdigerweise gebrauchen viele Kritiker hier das Wort "humanistische" mit positiver Konnotation,
wird dem Medium Film nicht gerecht. Bei "Poetry" dagegen ist das ein bisschen anders. Auch wenn mich selbst dieses Drama nicht vollkommen begeistern konnte,
sah ich doch zum ersten Mal die innere magische Kraft, die laut einigen Kritikern Lee Chang-dongs Werken innewohnt.
Auf dem 2010 Cannes Film Festival gewann "Poetry" den Preis für das beste Drehbuch und das zu Recht. Die Geschichte um eine alte Dame, die sich endlich
einen Traum erfüllen und dichten möchte, dabei aber von der grausamen Realität um sie herum eingeholt wird, in Form ihres Enkels, der
Teil eines schrecklichen Verbrechens sein soll, ist enorm vielschichtig und entfaltet sich auf vielen unterschwelligen Ebenen, so dass einem selbst die
Laufzeit von 139 Minuten kürzer vorkommt, als man es von einem Film mit einem solch langsamen Tempo erwarten würde. Mi-ja bleibt dabei als Hauptprotagonistin
zu jeder Zeit glaubwürdig, gerade wegen ihren Ecken und Kanten. Auch wenn sie wie für Lee Chang-dongs Filme typisch nur selten ihre Gefühle zum
Ausdruck bringt, wirkt sie doch viel wärmer und dem Publikum näher als z.B. Jeon Do-yeon in ihrer Rolle in "Secret Sunshine". Das sorgt dafür,
dass "Poetry" diesmal tatsächlich auf Dramaebene funktionieren kann, ohne sich dafür in tränenüberladene Gefilde begeben zu müssen. Die Mischung
aus humanistischer Exploration und unterschwelliger emotionaler Inanspruchnahme des Zuschauer stimmt diesmal einfach.
"Poetry" wird in ruhigen Bildern erzählt, viele lange Standbilder oder Handkameraaufnahmen, bei denen einem wegen dem Hin- und Hergewackele auch mal
etwas übel werden kann, stehen im Vordergrund, kein Soundtrack läuft Gefahr, den Realitätsanspruch des Films zu gefährden, da dieser schlichtweg
fehlt, und die Geschichte wird mit einem feinsinnigen Gespür für das Wichtige erzählt. Die Charaktere sind glaubwürdig und entfalten ihre
Besonderheiten auf subtile Art und Weise. Man muss sich vor allem aber fragen, warum sie sich so teilnahmslos benehmen, wie Jong-wook, als ihm klar wird,
dass seine Großmutter von seinem Verbrechen weiß. Er trifft sich nach wie vor mit seinen Freunden, als wenn nichts geschehen wäre, es scheint ihm
lediglich unangenehm zu sein, wenn seine Großmutter versucht, ihn mit seiner Straftat zu konfrontieren. Doch so verhält es sich auch mit den anderen
Charakteren. Die Väter der Straftäter besprechen bei einigen lockeren Zusammenkünften, wie nun die Mutter des Opfers zu entschädigen sei,
und ihr praktischer Umgang mit dem Verbrechen und den Konsequenzen, die sie für ihre Söhne zu befürchten haben, ist erschreckend.
Diese mangelnde Anteilnahme aller anderen Charaktere ist es auch, die Mi-ja dann zu einer so guten Indentifikationsfigur macht, denn sie ist die
einzige, die sich um das Opfer Gedanken macht und auf gewisse Weise auch die Schuld auf sich nimmt. Yoon Jung-hee, eine bekannte Schauspielerin aus den
60ern und 70ern, die Lee Chang-dong noch einmal nach 16-jähriger Pause überreden konnte, zum Film zurückzukehren, liefert eine unwahrscheinlich
vielschichtige Darstellung ab, welche die großartig geschriebene Geschichte erst so richtig zum Tragen bringt. Anfangs erscheint sie wie das typische
Großmütterchen, das gerne etwas zu viel redet, dem aber kaum einer zuhört und das sich deshalb einsam fühlt. Als sie im Poesie-Seminar gleich
erst erstes Fragen stellt, wie sie nur eine Frau stellen kann, die sich ihr Leben lang einzig um den Haushalt gekümmert hat, und wir alle saßen schon einmal
in Seminaren oder Vorlesungen, in denen so jemand die anderen Hörer unwahrscheinlich genervt hat, kann man sich gar nicht richtig vorstellen, dass
wir uns für sie interessieren könnten. Aber nachdem sie von der Vergewaltigung erfährt, verändert sie sich. Man sieht ihr förmlich an, dass sie gar nicht
weiß, wie sie damit umgehen soll und so durchläuft sie die verschiedensten emotionalen Phasen. Sie wird ruhiger, verschlossener, aber sucht immer noch
in der Poesie nach dem Schönen in der Welt und ihrem persönlichen Frieden mit dieser.
"Poetry" ist in vielerlei Hinsicht spannender als Lees vorige Werke. Das beinhaltet nicht nur die praktischen Dinge, wie das Geld, das Mi-ja beschaffen
muss, sondern man erwartet auch gespannt, wie sich die Dinge allgemein entwickeln. Wird Mi-ja ihren Enkel um jeden Preis schützen oder kann sie dies nicht
mit ihrem Gewissen vereinbaren? Regisseur Lee bricht dabei auch wieder das eine oder andere Tabu, so zeigt er in Analogie zu "Oasis" hier auch wieder
Sex mit einem behinderten, aber diesmal auch zwischen älteren Menschen. Lee zeichnet diese Themen, die totgeschwiegen werden, mit einer
gewissen Kühle, besonders den thematischen Fokus des Films, das Verbrechen und die Sünde, von der man sich in der koreanischen Gesellschaft
einfach versucht, mit Geld rein zu kaufen. Diese Distanziertheit kommt "Poetry" aber tatsächlich mal zu Gute, denn so wirkt das Drama keineswegs
überzeichnet, was leicht der Fall hätte werden können. Trotzdem kann uns Mi-ja berühren und die verschiedene Einstreuuungen von Dichtungen mögen in der
Übersetzung zwar etwas von ihrem Gehalt verlieren, sind aber dennoch schön anzuhören und unterstreichen Mi-jas Sehnsucht nach dem Schönen in der
Welt, das überall zu finden sein soll. Mi-jas Suche danach ist auf seine eigene Art fast schon spirituell und Lee Chang-dongs kritischer Blick auf
die Gesellschaft kann unterschwellig berühren. Seinen Titel trägt der Film damit zu Recht.