Story: Noriko (Kazue Fukiishi) ist siebzehn Jahre und muss sich Gedanken machen, auf welche Universität sie gehen will. In dem kleinen Vorort,
in dem sie mit ihrer Familie lebt, ist sie nicht glücklich, irgendetwas fehlt ihr und sie glaubt dieses Etwas in Tokio finden zu können. Doch ihr Vater Tetsuzo
(Ken Mitsuishi) will sie nicht gehen lassen. Daher beschließt sie eines Tages bei einem Stromausfall, einen Koffer zu packen und zu gehen. Sie kommt nach
Tokio und trifft sich dort mit dem Mädchen Kumiko (Tsugumi), die sie schon eine Weile von einer Chatseite kennt, der nachgesagt wird, dass dort Jugendliche
einen Selbstmord-Club gegründet haben. Kumiko nimmt sie sofort auf und führt sie auch in ihren Beruf ein. Sie schlüpft in die Rolle von Familienangehörigen,
wofür sie von vereinsamten Menschen bezahlt wird. Noriko legt ihre alte Identität ab und nennt sich fortan Mitsuko. Nach einer Weile verlässt auch Norikos
Schwester Yuka (Yuriko Yoshitaka) ohne Vorwarnung das Elternhaus. Sie folgt der Spur ihrer Schwester und arbeitet schließlich ebenfalls für
Kumiko. Tetsuzo beschließt letztlich, nach seinen beiden Töchtern zu suchen, aber sind die zwei wirklich noch seine Töchter?
Kritik: Regisseur Sion Sonos Erforschung der Leere im Menschen geht in "Noriko's Dinner Table" in die nächste Runde. Der Film ist eine
Quasi-Fortsetzung zu "Suicide Club", auch wenn er völlig problemlos ohne Kenntnis von diesem gesehen werden kann, da
er eigentlich nur dessen Grundfrage nach Identität sowie Sinn und Unsinn des Lebens nachgeht und ein paar Querverweise bereithält. Auch diesmal steht wieder das
Erwachsenwerden im Zentrum der Geschichte und es ist ein äußerst schmerzhafter Prozess, so wie Sion ihn zeichnet. Schuld daran sind die Erwachsenen,
die ihren Kindern gegenüber nicht der Rolle gerecht werden, die sie eigentlich innehaben. Und genau darum geht es in dem Drama auch. Um Rollen, die wir im
Leben spielen. Dabei müssen wir uns erneut die vom Regisseur geliebte Frage stellen lassen: Sind wir verbunden mit uns selbst?
Die Geschichte wird aus der Sicht von hauptsächlich vier Individuen erzählt, die alle auch als Erzähler herhalten und oft jede ihre Handlungen
kommentieren. Manchmal erscheint das ein wenig unnötig, aber es verhindert ebenso, dass der Film noch größere Längen aufweist. Denn diese sind trotz allem
bei einer Laufzeit von ca. 160 Minuten vorhanden. Warum Sion Sono seinem Film laufzeittechnisch solch epische Ausmaße verleihen musste, bleibt fraglich.
Der Film fühlt sich zwar gut eine halbe Stunde kürzer an, als er ist, aber zu lang ist er nichtsdestotrotz. Die Geschichte ist dabei in Kapitel
aufgeteilt, in denen es nur wenige Wiederholungen bekannter Ereignisse aus der Perspektive eines anderen Individuums gibt. Dafür verliert sich der Regisseur
aber oft in kleinen Details und Anekdoten.
Worum es in "Noriko's Dinner Table" genau geht, ist wie so häufig bei Sion Sono schwer auszumachen. Er will eigentlich gleich mehrere Fragen, die den Sinn
des Lebens anschneiden, im Vordergrund wissen. Sind wir innerlich alle nur leere Blätter, die für andere verschiedene Rollen spielen? So fühlt Noriko bei
einem ihr fremden Mann, für den sie die Tochter spielt, mehr Wärme als bei ihrem eigenen Vater. Die daraus resultierende emotionale Abgestumpftheit zeigt
sich bei Kumiko, die desinteressiert zusieht, wie eine ihrer Kolleginnen von einem Kunden erstochen wird. Was für einer Zukunft sieht ein Mensch wie Kumiko
entgegen? Es ist eine hoffnungslose und leere Zukunft, die den Zuschauer zur emotionalen Erschöpfung bringt. Es ist nicht leicht, dank des Films
nicht ebenfalls depressiv zu werden. Und wer sich diesem Gefühl verweigert, wird wohl nur wenig aus dem Drama für sich mitnehmen können.
Es besteht kein Zweifel daran, dass Regisser Sion viel Sozialkritik in seinen Film verbaut. Zum Teil geht er dabei jedoch zu prätentiös und direkt vor.
Gelungener sind da interessenterweise die Szenen, in denen die Dialoge und Verhaltensweisen der Charaktere etwas abstrakter sind und man sich Gedanken
machen muss, was wohl die Intention des Regisseurs ist. Und von diesen Szenen gibt es zahlreiche. Zweifellos handelt es sich bei den vier Protagonisten
um kranke Individuen und es ist eine merkwürdige Faszination, die uns dazu verleitet, ihrem Schmerz und ihrer Leere auf den Grund zu gehen. Wir begeben
uns auf eine Reise, die letztendlich jedoch unwahrscheinlich kraftraubend und düster ist. Gerade der verzweifelte Versuch Norikos an ihrer neuen Identität
als Mitsuko festzuhalten, obwohl sie als diese nichts weiter als ein leeres Gefäß ist, ist sehr schmerzhaft mitanzusehen.
Im Endeffekt ist es wohl aber leichter, ein leeres Gefäß zu sein, als sich wie eines zu fühlen. Sion Sono fängt sein tiefgreifendes Drama oft auch im Handkamera-Stil ein und lässt in einigen Szenen die Schauspieler ohne einen Schnitt arbeiten, was den Emotionen eine besondere Dynamik und Glaubwürdigkeit verleiht. Für die Längen des Films, die den größten Kritikpunkt ausmachen, entschädigt aber ein gelungenes Finale, das sehr tief geht. Die Leere, die die Protagonisten verspüren, wird sehr gut auf den Bildschirm transportiert und der Zuschauer muss aufpassen, nicht ebenfalls davon angesteckt zu werden. Für solche, die den ernsten Fragen des Lebens aus dem Weg gehen wollen oder die sich nach einem Film nicht so erschöpft fühlen wollen, als hätte man die Last gleich mehrerer Leben plötzlich auf sich liegen, dürfte "Noriko's Dinner Table" daher nichts sein. Für alle anderen stellt Sion Sonos außergewöhnliche Reise trotz Überlänge eine klare Empfehlung dar.